„Zum Ekel ist mein Leben mir geworden,/ ich lasse meiner Klage freien Lauf,/
reden will ich in meiner Seele Bitternis.
Ich sage zu Gott: Sprich mich nicht schuldig,/ lass mich wissen, warum du mich befehdest!
Was hast du davon, dass du Gewalt verübst,/ dass du die Mühsal deiner Hände verwirfst,/ doch über dem Plan der Frevler aufstrahlst?
Hast du die Augen eines Sterblichen,/ siehst du, wie Menschen sehen?
Sind Menschentagen deine Tage gleich/ und deine Jahre wie des Mannes Tage, dass du Schuld an mir suchst,/ nach meiner Sünde fahndest, obwohl du weißt, dass ich nicht schuldig bin/ und dass keiner retten kann aus deiner Hand?
Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht;/dann hast du dich umgedreht und mich vernichtet.
So lautet der Originaltext von „Ijobs Klage“ im Alten Testament (1) und dieses Thema greift HAP Grieshaber 1934 auf, schneidet fünf Blätter dazu ins harte Holz, inmitten einer dunklen, politischen Zeit, in der seine Kunst reglementiert wird, der braunen Kulturzensur zum Opfer fällt. Ein Jahr zuvor muss er aus Griechenland abreisen, der Deutsche Botschafter hat ein Auge auf seine Publikationstätigkeit geworfen, warnt ihn davor, eine „Deutsche Kulturzeitung“ herauszugeben.
Es geht im altestamentarischen Text um das Schicksal Hiobs, der Familie und Besitz verliert, von Gott auf die Probe gestellt wird und auch in der schwersten Zeit seines Lebens dem Satan widersteht, sich nicht dazu aufhetzen lässt, um von Gott abzulassen.
Der fromme Dulder bildet sein Wurzelwerk des Glaubens aus, bleibt stark und preist sogar seinen Gott.
Ohnmacht und Übermacht aushalten
„Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter;/ nackt kehre ich dahin zurück./
Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen;/gelobt sei der Name des Herrn.“ (2)
Drei Freunde stehen Hiob zur Seite - Elifas, Bildad und Zofar – und am Ende des Leidens- weges wird er für seine Standfestigkeit belohnt, steht „Ijobs Neues Glück“:
„Der Herr wendete das Geschick Ijobs, als er für seinen Freund Fürbitte einlegte, und Der HERR mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte“. (3)
Der Anfang der dreißiger Jahre aus der Kirche ausgetretene Grieshaber, der bekennende Kommunist und Antifaschist, kehrte im Juli 1933 nach zweijährigem Auslandaufenthalt nach Reutlingen zurück.
Der spätere Cheflektor des VEB Verlag Buch und Kunst in Dresden, Rudolf Mayer, mit dem der Holzschneider 1966 den „Baseler Totentanz“ herausgeben wird, fasst diese Atmosphäre zusammen:
„Die Umstände <zu Hause> hatten sich in fast jeder Hinsicht verändert. Wohin man blickte Hakenkreuze, die Freunde verstört, versprengt, einige in <Lagern> verschwunden. … Reutlingen verwandelte sich in eine Hochburg der braunen Führerschaft. Auch der Vater gehörte zu denen, die sich einnehmen ließen. … Grieshabers Rückkehr stand unter Zwängen und Gefahr, anscheinend dann auch in ständiger Beobachtung; sie führte jedoch keineswegs zur Unterwerfung.“ (4)
Widerstand als Wurzelwerk der Resilienz
Der äußere Umstand verhilft HAP Grieshaber Stärke in der Not auszubilden, im Sinne einer ungewöhnlich stringenten Resilienzentwicklung. Der Künstler akzeptiert den Zeitkontext als Möglichkeit eines fruchtbaren Wirkens – trotz seines Ausschlusses aus der Reichskulturkammer und 1947, verbalisiert diesen Gedanken indem er an „das Stückchen geistigen Guts, das noch erhalten blieb“ erinnerte und den Künstler zur Leistung des „Widerstandes“ verpflichtet sehe – er spricht sogar von der „Verantwortlichkeit echter Kunst“. (5)
So gerät das „Hiob“-Thema zu einem selbstidentifkatorischen Sujet, zeichnet es einmal mehr Grieshabers eigene Vita nach, sein Dasein als politisch Verfolgter, als einer, der dem modernen Formkanon abschwören musste, wohl aber über den symbolischen Gehalt des Mediums Holzschnitt seiner politischen Grundhaltung Ausdruck verlieh - im Harnisch des aufständischen Flugblattdruckers. Es geht sowohl in der „Hiobsklage“ wie in Grieshabers situativem Sein um Übermacht und Ohnmacht und das Festhalten an einer tiefgründigen, stets sich erneuernden Unbeirrbarkeit.
Hier das Leid ohne erkennbaren Sinn dort das Diktum des guten Handelns und die vielen Fragen nach der Erklär- oder Vorhersehbarkeit eines göttlichen Willens. Bei Hiob ist eine Logik des Standhaftbleibens und der anschließenden Belohnung nachzuvollziehen.
Und Grieshaber? 1935 schickt er seinem Stuttgarter Freund Walter Renz einen „Hiob zum an die Wand nageln und zum Gedächtnis“. (6) Zum Gedächtnis? „Malgré tout“ – trotz alledem – wird in dieser Zeit zu seiner Losung und zu seinem Motto, er formuliert es in einem anderen Brief von 1935/36 an Walter Renz:
„Lieber Walter/Nachdem man lange genug sehr schön geschwiegen, verschwiegen, sich auch oft zugeblinzelt oder, wenn es gar zu <ernscht> wurde, sich insgeheim die Hand gedrückt hat… ist es wieder an der Zeit, ein Malgré tout schriftlich auszugeben. … Inzwischen singe ich ein Schlaflied vom Jahre 1849: Schlaf leis mein Kind, schlaf leis/Draußen geht der Preuß/ Der Preuß hat eine blut´ge Hand/die streckt er übers bad´sche Land/wir alle müssen stille sein…
(Ludwig Pfau, der revolutionäre politische Dichter, verfaßte es 1849 gegen die preußisch-monarchische Besatzungsmacht in Baden. ) (7)
Die dreißiger Jahre sind als eine zentrale Phase innerhalb seines Wirkens anzusehen und Grieshaber selbst ist es, der diese als „Mitte meiner künstlerischen Entwicklung“ definiert, es sei darum gegangen, in der schweren Zeit „etwas zu machen“. In Form christlicher Metaphorik – und hier steht Hiob als DIE Metapher für erduldetes Leid, das letztendlich einen positiven Ausgang findet – wendet er sich an ein erdachtes Publikum, auf dessen Erkenntnis er hofft – ein Spannungsfeld zwischen Leiden und Erlösung, passio und redemptio.
Grieshabers „Passion“ als Befreiung
„Ich mußte mir am Beispiel der Gotik den freien Ort holen, um mich entwickeln zu können, den der Künstler in der Gesellschaft damals nicht hatte“ (8), kommentiert HAP Grieshaber diese Zeit – als er sich mit der Reutlinger gotischen Marienkirche beschäftigt. Zusammen mit der Kunstanstalt Sautter entstehen Arbeiten, die sich mit dem Wahrzeichen der Achalmstadt, ihren architektonischen, skulpturalen, bildikonografischen Gegebenheiten beschäftigen. Die leuchtend bunten Glasfenster der Marienkirche fließen von Form und Farbe in die 30teilige Holzschnitt-Folge „Die Passion“ mit 21 figurativen, meist aquarellierten Darstellungen und 9 Schriftblätter mit ein. Hier ist anzumerken, dass der Künstler die Blätter auf 1935 nachdatiert hat, eine Entstehung im Jahre 1937 aber – nach neuesten Erkenntnissen – wahrscheinlicher ist. (9)
Der Bildbogen spannt sich inhaltlich von Altem zu Neuem Testament, umfasst Motive wie „Adam und Eva“, „Verkündigung“, „Maria und Elisabeth“, „Geburt“, „Engel“, beschreibt Metaphern des Stark-sein-in der-Krise wie den „Sturm“ auf dem See, in dessen Mitte Jesus im Boot mit seinen Jüngern gefangen ist und er als einziger schläft.
Grieshaber konfrontiert den Betrachter mit dem Leiden und Sterben Jesus mittels Holzschnitten wie „Gethsemane“, „Kreuzigung“, „Klage“, visualisiert die positive Aussicht der „Auferstehung“.
Das Göttliche preisen
Gerade die Schriftblätter apostrophieren in lateinischen Lettern die Gegenwart Gottes, preisen ihn als „Dreieinigen und Einzigen“, als „Großen und Unbegrenzten“. „Tu solus“ lautet das Grieshabersche Bekenntnis in einer Zeit, in der Reutlingen voller Hakenkreuze ist und das Bild des Führers auf Bildern prangt. „Ne me permittas separari a te“ – Du darfst Dich nicht von ihm entfernen – lautet ein Schriftblatt – und damit ist ganz klar Gott gemeint.
„Kreuzweg der Versöhnung“ und „Polnischer Kreuzweg“
Grieshaber schneidet 1941 während seiner Soldatenzeit im elsässischen Hagenau noch das „Kruzifix/(Im Krieg zerstörtes Kruzifix)“, dessen ungewöhnliche Bildsprache ins Auge fällt: Zwei abgerissene Arme, ein Brustkorb und ein angenageltes Bein bilden den Corpus Christi, ein verstümmelter Leib weckt Erinnerungen an Kriegsgreuel und steht als Antikriegs-Mahnmal.
In den sechziger Jahren dann nehmen die Werke christlicher Thematik einen Schwerpunkt ein. 1964 wird der „Osterritt“ publiziert, eine Mappe mit 39 Holzschnitten, die seinen fünftägigen Ritt auf seiner Islandstute Sveina - von seinem Wohnort - der Achalm - durch Oberschwaben zu seinem Geburtsort Rot an der Rot - dokumentiert.
1965 fragt der Journalist und Kunstkritiker Ulrich Seelmann-Eggebert im Auftrag des Architekten Lothar Goetz bei Grieshaber an, ob er sich vorstellen könne, für die im Wiederaufbau befindliche, frühere Residenz der Speyrer Fürstbischöfe in Bruchsal einen Kreuzweg zu gestalten. Grieshaber hatte vor, die Kreuzwegstationen in weißem Porzellanguss zu halten – in diesen Jahren arbeitete er mit der Firma Rosenthal in Selb/Oberfranken zusammen. Das barocke Ambiente war vielleicht der Grund für die Weißgoldbarockvariante, er verwarf seine Idee, blieb aber der Farbkombination und seinem Hauptmedium Holz treu und präsentierte die Stöcke als Wandskulpturen. Dabei hielt er sich an die liturgischen Vorgaben.
Ein Geschenk für Stefan Kardinal Wyszynski
Bevor die Stöcke blattvergoldet und mit weißer Druckerfarbe versehen wurde – druckte Grieshaber 70 Exemplare vor der Farbgebung – und mit zusätzlich geschnittenen Platten – auf Japanpapier. Ein Exemplar dieses „Kreuzwegs des Versöhnung“ wurde an Stefan Kardinal Wyszynski überreicht – 60 Jahre nachdem Deutschland Polen überfallen und den Zweiten Weltkrieg verschuldet hatte.
Weitere Exemplare gingen in den Besitz des Freiburger Erzbischofs und des Rottenburger Bischofs über. Auch das Kloster Sießen – wo Grieshaber die Nonnen des Klosters während seines „Osterritts“ besuchte – St. Agnes in Hamburg und die Saulgauer Schweden-Kirche erhielten eine Folge dieses Kreuzweges.
Er schildert die Szene mit einem mächtig dargestellten Pilatus und dessen Händen im Bildmittelpunkt, der hinausgeht zum Volk und spricht:
„Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, dass ich keine Schuld an ihm finde.“ (10)
Der Holzschneider lässt den Betrachter den Leidensweg mitgehen, erhebt ihn zum Zeugen eines Prozesses, der durch das dreimalige Niederfallen Jesus, der Unterstützung des Simon von Cyrene – das Kreuz mittragend – der Heiligen Veronica, die das Schweißtuch reicht, Nagelung, Kreuzigung, Beweinung und Grablegung geprägt ist. Gerade die emotionale Schilderung der „Nagelung“, bei der übergroß dargestellte Nägel in die aufbäumenden Gliedmaßen des Gottessohnes unmenschlich brutal hineingetrieben werden, affiziert den Betrachter.
Empathie für den Geplagten
So gerät diese christliche Bildikonografie zu einem Paradigma für das Verwehren jeglicher Empathie, wird zum Symbol für das Nichtvorhandensein von Mitgefühl oder Mitleid. Und – hier tritt wieder das Hiobthema in Kraft – verbildlicht ohnmächtiges Erdulden. Diesem „Kreuzweg der Versöhnung“ ging der „Polnische Kreuzweg“ 1967 voraus. Der Primas der katholischen Kirche, Kardinal Wyszynski, hatte anläßlich des tausendjährigen Jubiläums der Christianisierung und der Staatsgründung Polens eine Schrift mit „Kreuzwegmeditationen“ verfasst. Diese schickte er HAP Grieshaber zu. Der Samen war in die Erde gesteckt und ging auf. Am Ende erscheint unter dem Titel „HAP Grieshaber Kreuzweg. Meditationen von Stefan Kardinal Wyszynski“ ein – im Vergleich zum „Versöhnungskreuzweg“ – eigenständiges Werk mit individuell ausformulierten Bildinterpretationen. Es enthält aber auch formale Deckungsgleichheiten, so beispielsweise die „Nagelung“. Natürlich könnten wir auch noch auf weitere zentrale Arbeiten verweisen, wollen hier - pars pro toto – noch ein größeres Werk Grieshabers in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, um die christliche Bildthematik als signifikanten Themenblock seines Oeuvres zu beleuchten:
Die „Josefslegende“ von 1970, konzipiert für die evangelische Stadtkirche St. Germanus in Stuttgart-Untertürkheim.
Eine Anekdote am Rand
Anspruch der Auftraggeber war es, eine bewegliche Schiebewand zu gestalten, die Gottesdienste und einen Raum für weitere Veranstaltungen trennt. Für die sieben Meter hohe und neun Meter breite Wand wählte Grieshaber deshalb Linoleum, weil es leichter ist als Holz. Wolfgang Glöckner berichtet in diesem Zusammenhang von einer Anekdote, die Grieshabers doch vielleicht insgeheime Frömmigkeit ein wenig nachspürt. Dem mit dem Procedere betrauten Kirchengemeinderat soll Grieshaber hinsichtlich der Kostenfrage in reinstem Schwäbisch gesagt haben:
„ Erstens könnet ihr des net zahla, und zwoitens mach i koi Gschäft mit em liaba Gott.“
Er verlangte nur die Kosten und ließ sich eine Spendenquittung ausstellen. (11)
Auch die 36 Linolplatten waren für die Wand noch zu schwer, er stellte daher Abdrucke her, die er mit Pastellkreide kolorierte, später dann mit Fixativ behandelte und auf Aluminiumplatten aufzog. „Inspirationsquellen und inhaltliche Leitplanken für Grieshaber waren Thomas Manns Tetralogie Josef und seine Brüder sowie Martin Bubers „Verdeutschung“ der hebräischen Bibel“, stellt Wolfgang Glöckner fest. (12)
So wurden der Buchausgabe mit den Abbildungen der Linolschnitte der Bubersche Text hinzugefügt. Thematisch geht es wieder einmal um psychologische Archetypen, um Neid, Missgunst, Machtgelüste, letztendlich Schuld und Vergebung, mit den Worten Josefs gesprochen: „Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am Leben erhalten.“ (13)
Grieshabers bedient sich christlicher Ikonografie gerade auch um genau diese Archetypen zu verbildlichen und den Bezug zum hic et nunc herzustellen. Die theologische sowie säkulare Grundfrage und existentielle Problematik der Theodizee, der theodikía, der Gerechtigkeit Gottes und des subjektiven Leidens in der Welt bleibt als Bedeutungshorizont im hier beschriebenen Werk Grieshabers erkenntnisleitend präsent.
Anmerkungen:
- Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Stuttgart 2016, Ijob 10,1-8
- Die Bibel; Ijob 1,21-22
- Die Bibel; Ijob 42,10
- Mayer, Rudolf: Tagröte. Der junge Grieshaber und seine Freunde. Ostfildern 1998, S. 46
- Mayer; Tagröte, S. 46
- Fürst, Margot: Grieshaber Malbriefe. Stuttgart 1967, S. 3
- Fürst; Grieshaber Malbriefe, S. 3
- Mayer; Tagröte, S. 47
- Vgl. dazu: „Die grossen Menschheitsbilder eines Ketzers“. Christliche Themen im Werk HAP Grieshabers. Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen. 16.12.17-8.4.18. Tübingen 2017, S. 17
- Die Bibel; Johannes 19,4-5
- „Die grossen Menschheitsbilder eines Ketzers“; S. 67
- „Die grossen Menschheitsbilder eines Ketzers“, S. 68
- Die Bibel; Genesis 50,20-21